Das Lebensende ist aus den alten familialen und kirchlichen Bindungen heute weitgehend herausgefallen. Die Familie ist geographisch und sozial verstreut, die christlichen Bindungen sind ausgedünnt. Das Lebensende ist zugleich zunehmend institutionalisiert worden (80 Prozent der Mitteleuropäer sterben in Einrichtungen – Pflegeheimen, Krankenhäusern, Hospizen und nicht zu Hause wie ehemals). Die Hospizbewegung hat seit den achtziger Jahren versucht, auf die neue Situation humane Antworten zu finden. Heute hat sich der Umgang mit dem Lebensende radikal verändert: Das Sterben ist nicht nur institutionalisiert worden, sondern auch medikalisiert und ökonomisiert. Diese Ökonomisierung geht auf Kosten von Zeit und Zuwendung für den Sterbenden, die dieser aber dringend braucht. Bürokratie und Technik haben sich in Hospizen und Kliniken derartig breitgemacht, dass das "qualitätskontrollierte Sterben" immer mehr zur Realität wird. Wir können uns ein Lebensende ohne medizinische Begleitung kaum noch vorstellen. Aber was bedeutet das? Und das Sterben ist – das sagen die Krankenkassen - zum teuersten Lebensabschnitt geworden.
Reimer Gronemeyer und sein Co-Autor Andreas Heller führen in ihrem Buch «In Ruhe sterben. Was wir uns wünschen und was die moderne Medizin nicht leisten kann» ausserdem aus, dass das Sterben in unserer Gesellschaft standardisiert und zudem dokumentiert wird. „Das Sterben wird mehr und mehr zum technokratisch verwalteten Vorgang, bei dem aber zugleich die menschliche Zuwendung auf der Strecke bleibt. Die Hospize unterliegen dem Zwang zur Professionalisierung, und die Kliniken unterstehen dem Diktat der Wirtschaftlichkeit. Alte, todkranke Menschen werden langwierig und schmerzhaft therapiert, denn unser Gesundheitssystem kennt nur noch die Therapie und nicht mehr die Begleitung: Eine Therapie bringt Einnahmen, Begleitung hingegen verursacht Kosten. Diese Entwicklung zwingt zum Einspruch: Wir brauchen keine neuen Versprechen der Pharmaindustrie, keine endlosen Therapieversuche, keine neuen technischen Verfahren. Stattdessen muss die Medizin endlich in die Schule des Sterbens gehen und lernen, dass Sterben und Tod zum Leben gehören. Am Lebensende brauchen wir vor allem die freundschaftliche Sorge anderer, eine fürsorgliche Begleitung, in der die sterbenden Menschen der Massstab allen Handelns sind. Voraussetzung dafür ist ein Gesundheitswesen, das sich an den Bedürfnissen der Menschen und nicht an den Kalkulationsmodellen der Kliniken orientiert. Denn wir können nicht in Würde leben, und wir können nicht in Würde sterben ohne die sorgende Wärme anderer Menschen.“
Reimer Gronemeyer, Dr. theol. Dr. rer.soc., Professor em. an der Justus-Liebig-Uni Giessen, Institut für Soziologie. Er hat sich lange mit den Themen Aidsbekämpfung, Palliativmedizin, Hospizbewegung sowie Demenz beschäftigt, ist ein viel gefragter Redner und hat zahlreiche Bücher veröffentlicht.
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WohinTippHQ 40 mins ago