Die Musik der Seherin
Eine Komposition nach und Lieder von Hildegard von Bingen im Altacher Pfarrzentrum
Am Vorabend ihres Festtags feiern die Altacher Soireen die Kirchenlehrerin, Therapeutin und Musikerin mit der Uraufführung einer Komposition von Thomas Thurnher. Aglaia Poscher-Mika singt Hymnen von Hildegard von Bingen (1098 – 1179). Anna Mika hält eine Einführung.
Die Superlative drängen sich auf bei Hildegard: Die Kirchenlehrerin (seit 2012 offiziell) und Autorin gründete zwei Frauenklöster und reformierte die Liturgie, war Musikerin und Dichterin, Therapeutin und Theologin. Mehrmals auf den Tod krank, wird sie 82 Jahre alt. Von vielen (männlichen) Oberen angefeindet, ist sie zugleich das „hellwache Gewissen des 12. Jahrhunderts“ (Régine Pernoud), korrespondiert freimütig, auch mit Kaiser und Papst, und weckt als Predigerin (!) Mainz, Trier, Metz, Köln und Bamberg und schwäbische Klöster aus dem Schlaf des Klerikalismus und der Privilegien. Schon als Jugendliche buchstäblich bedrängt von ihrer Einsicht in biblische und universale Zusammenhänge, fragt sie noch mit 47 Jahren bei Bernhard von Clairvaux an, ob sie ihrer Begabung und Kunst trauen soll; sie beherrsche ja nicht einmal das schriftliche Deutsch...
Angesichts der Industrialisierung selbst der Medizin und eines Denkens, das die Welt wie eine Maschine behandelt, entdeckte unsere Zeit ihre Natur- und Menschenkunde und ihre Heilmittel neu. Sie beruhen auf Erfahrung - die Nonne beobachtet z.B. die Gewässer (samt Bewohnern) des Rheingaus unter dem Aspekt der Gesundheit. Heute ist „Hildegard-Medizin“ fast ein Markenname.
Die Hauptwerke der Benediktinerin heißen „Scivias“ (Wisse die Wege) - Visionen von Gottes Schöpfung, der rettenden Gestalt Christi und vom Beitrag des Menschen zur Vollendung des Universums. „Der Mensch in der Verantwortung“ von 1162 bringt die “Kräfte“ zur Sprache – anschaulich und im kosmischen Zusammenhang –, die in unserer Verantwortung liegen; Hildegard lässt z.B. die Hartherzigkeit und die Barmherzigkeit miteinander streiten. Das „Buch der göttlichen Werke“ schließlich sieht den Menschen im Zentrum der Schöpfung. Erstaunlich an diesen Visionen ist nicht zuletzt ihre Sinnlichkeit – die Kraft, die Leib und Seele belebt, nennt Hildegard „viriditas“, das Grünende; der Kosmos ist feuriges Werden, bei dem des Menschen Wille und Verstand mitwirken, zum Bösen wie zum Guten.
Die Visionen hat sie in Bingen in die Tat umgesetzt: Bei der Liturgie wird getanzt wie zu Davids Zeiten – etwas Unerhörtes, nicht nur damals. Hildegards Dichtungen handeln vom Anhauch des Geistes, der den Leib beseelt, von Maria und ihrer „symphonischen“, mit der Schöpfung im Einklang stehenden Mutterschaft, von der Aufgabe des Menschen in der Welt, die nicht für das Verderben bestimmt, aber davon bedroht ist.
Ihre Vertonungen gehen über die Gregorianik ebenso hinaus wie über heutige, oft für natürlich gehaltene, dem Ohr „schmeichelnde“ Mehrstimmigkeit (Anna Mika).
Als Thomas Thurnher in einer Wettbewerbsausschreibung von „klangsinnlicher Musik für Violine und Orgel“ las, seien ihm die „gotischen“ Klangfiguren von „O quam mirabilis“ in den Sinn gekommen; mittels „eruptiver Unterbrechungen“ entstand daraus ein neues Werk, das Ines Schüttengruber (Orgel) und Jacqueline Roscheck (Violine) bei der Hildegard-Soiree zur Uraufführung bringen. (Außerdem spielen die Mitglieder des Wiener Concertvereins Musik für die seltene Besetzung von Bach, Muffat, Mendelssohn, Thurnher und Salamon.)
Als zweiten Höhepunkt singt Aglaia Poscher-Mika die Antiphon und weitere Hymnen der Kirchenlehrerin in der Originalfassung, z. B. das Marienlied „O viridissima virga“.
Eine Einführung in die hildegardsche Musik hält die Musikologin Anna Mika um 19 Uhr 30. Ausstellung, Übersetzung, Büchertisch und anschließendes Beisammensein runden die Soiree ab. Die Veranstalter bitten um Vorsicht und wegen der Abstandsvorschriften um Anmeldung unter pfarrzentrum@pfarre-altach at, 05576 42010.
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Kommentare
WohinTippHQ 49 mins ago